Digitalisierung: Wo Estland Deutschland um einiges voraus ist

15.01.2020.

In Estland werden Behördenangelegenheiten aller Art schon seit Jahren online erledigt. Jetzt folgt der nächste Schritt: die vollständige Automatisierung.

An der Lõõtsa-Straße, östlich von Tallinns Innenstadt, dreht sich seit langem alles um Fortschritt. Zur Zarenzeit wurden hier in einem großen, dreistöckigen Fabrikkomplex Eisenbahnwaggons montiert. Was genau die Sowjets hinter den hohen Ziegelsteinmauern produzierten, darüber gibt es nur Vermutungen. Die Arbeit war streng geheim, offenbar fürs Militär, womöglich für die Raumfahrt. Nach der Unabhängigkeit Estlands geht es offener zu; bald zogen Programmierer in den Bau und werkeln seitdem an der Zukunft des Landes. Ülemiste City, so der Name des Stadtteils, gilt als baltisches Silicon Valley.

Estland ist schon lange bekannt für seine Vorreiterrolle in Sachen Digitalisierung, vor allem Bürgerdienste hat die Baltenrepublik schon vor Jahren ins Internet verlegt. In „E-Estonia“, wie sich das Land gerne selbst nennt, sind nahezu alle Behördenangelegenheiten bequem mit ein paar Klicks von zu Hause aus zu erledigen. Mehr als 3000 Dienstleistungen – von Behörden und Unternehmen – können digital erledigt werden. Als Schlüssel zu den digitalen Möglichkeiten dient die Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und mehr ist.

Behördengänge sollen digitalisiert werden

Und das Angebot wächst weiter. Vor wenigen Wochen sind die ersten proaktiven Dienstleistungen gestartet. Das „antraglose Verfahren wird gerade Realität“, erklärt Hendrik Lume. Der Deutsche arbeitet als Berater beim Technologieunternehmen Nortal. Die Softwarefirma ist eine der größten des Landes mit fast 1000 Mitarbeitern weltweit.

Nortal hat Quartier bezogen in der früheren Eisenbahnfabrik – und die Entwicklung der digitalen Infrastruktur im Auftrag der Regierung zu großen Teilen umgesetzt. In Büros mit viel Holz und Glas sowie Massage- und Sauna-Angeboten arbeiten die Mitarbeiter am nächsten Schritt der Digitalisierung: Künftig sollen nicht mehr die Bürger ihre digitalen Behördengänge erledigen müssen – vieles soll stattdessen automatisiert funktionieren.

Zum Beispiel bei einer Geburt: Das Krankenhaus meldet den Nachwuchs sofort bei den Behörden an. Damit einher geht die Anmeldung bei der Krankenversicherung (in Estland gibt es nur eine) sowie die Registrierung von Sozialleistungen wie Kindergeld und weitere Zuschüsse. Die Eltern des Neugeborenen werden in einer E-Mail darüber informiert, auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Nachricht brauchen sie nur noch zu bestätigen, die Antragstellung bei den Behörden, die bisher nach der Geburt nötig war, entfällt. „Eltern müssen nichts mehr machen, der Staat wendet sich an die Eltern“, erklärt Lume. „Die proaktive Verwaltung minimiert den Arbeitsaufwand.“

Für Deutschland ist das alles Utopie

Weitere Dienste sollen folgen. Nach den Formalitäten rund um die Geburt ist gerade das Thema Rente in der Diskussion. In einigen Fällen wird allerdings noch eruiert, ob ein proaktiver Staat sinnvoll ist – oder nicht. So wurde überlegt, Beihilfen für Arbeitslose zu automatisieren: Sobald ein Unternehmen in Schwierigkeiten gerät, könnten die Beschäftigten, also potenzielle Arbeitslose der Zukunft, bereits über staatliche Hilfen informiert werden. Allerdings gab es Bedenken, dass dies die Insolvenz eines strauchelnden Unternehmens eher noch beschleunigen könnte. In diesem Fall wird die proaktive Verwaltung wohl nicht kommen. Bis zum Jahresende 2020 sollen aber zunächst insgesamt sieben Dienste rund um verschiedene Lebensereignisse auf die neue Art und Weise verwaltet werden.

In Deutschland klingt das noch nach Zukunftsmusik. Bis zum Jahr 2022 wollen Bund, Länder und Kommunen 575 Verwaltungsleistungen vom Antrag für einen Personalausweis oder Führerschein bis hin etwa zu dem für Elterngeld überhaupt erst einmal nach einheitlichen Standards online anbieten.

„Wir stehen sicher nicht in der Spitzengruppe zurzeit“, erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer kürzlich. „Aber da wollen wir hin.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Digitalisierung als „Herzensangelegenheit“. Deutschland sei zwar etwas träge, doch stünden tief greifende Veränderungen in der Verwaltung und in der Wirtschaft bevor, verkündete die Kanzlerin.

In Estland laufen derweil 99 Prozent aller staatlicher Verwaltungsleistungen übers Internet. „Die Interaktionen finden bis auf Ausnahmen komplett online statt“, sagt Lume. Nur bei drei Diensten ist dies nicht möglich: Eheschließungen und Scheidung haben die Esten ausgenommen – aus ethischen Gründen. Auch beim Kauf einer Immobilie ist tatsächlich ein Gang zum Amt erforderlich sowie der Beglaubigung eines Notars auf Papier.

Dafür können die Esten seit 2005 sogar online wählen. Seinen Mietvertrag in Tallinn hat Lume ganz selbstverständlich digital unterschrieben, zu dem Zeitpunkt waren weder er noch sein Vermieter im Land.

Technik als Mittel zum Zweck

Die Automatisierung der Verwaltungsleistung ist die vorerst letzte Stufe der Entwicklung, die mit einfacher Online-Information und Interaktion begann. Die Digitalisierung wird bereits seit den 90er Jahren vorangetrieben – mit dem Regierungsprogramm „Tiigrihüppe“, Tigersprung. Dabei stand nicht eine große Affinität fürs Digitale im Vordergrund, sondern in erster Linie die Notwendigkeit im Land: Mit 1,3 Millionen Einwohnern leben in Estland in etwa gleich viel Menschen wie in München – allerdings auf einer Fläche, die so groß ist wie Niedersachsen. Außerhalb der Hauptstadt und Regionalzentren ist die kommunale Versorgung nur mit großem Verwaltungsaufwand zu bewerkstelligen.

Aus pragmatischen Gründen entschied die Regierung deshalb, die Verwaltung „so zugänglich wie möglich zu machen“, wie Tobias Koch erklärt, der im E-Estonia Briefing Center arbeitet, einem Showroom der estnischen Digitalisierung. Die Technik sei Mittel zum Zweck, eine bessere Verwaltung zu schaffen.

Koch kennt die größten deutsche Vorbehalte nur zu gut von Delegationen, die er in Tallinn regelmäßig über die Möglichkeiten im Land informiert. „Skepsis ist okay“, sagt er, „wichtig ist der Schluss, den man daraus zieht: Nichts tun – oder angemessen reagieren und Lösungen finden.“

Auch in Estland wissen die Nutzer um die Gefahren und Probleme, doch das Vertrauen in Technik und Regierung überwiegt. Mit wenigen Klicks kann jeder genau sehen, wer wann zu welchem Zweck auf Daten zugegriffen hat. Jede Behörde hat streng festgelegte Zugriffsrechte, welche Informationen sie überhaupt abrufen darf. Wer sich unberechtigterweise Zugang verschafft, muss mit Strafen rechnen.

„Die digitalen Möglichkeiten machen das Leben einfacher“, sagt Lume. Bedenken in Sachen Datenschutz gebe es auch in Estland. Allerdings habe der praktische Nutzen viele Vorbehalte „letztlich in den Hintergrund gerückt“, sagt Lume.

„In Estland ist man überzeugt, dass Daten einer Person gehören, aber von anderen Stellen verwaltet werden – aber man hat die Kontrolle darüber“, sagt Koch. „Das ermöglicht einen souveränen Umgang mit Daten.“

Gefahren lauern dennoch. Das zeigten nicht nur die schweren Cyberangriffe im Jahr 2007, die viele Internetdienste zeitweise lahm legten. Zuletzt Ende November waren mehrere Online-Angebote für Bürger nicht erreichbar – weil Ratten ein Erdkabel zwischen zwei staatlichen Datenzentren in Tallinn angenagt hatten.

Quelle: fr.de

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