Unterwegs mit dem digitalen Sackmesser

11.12.2018.

Michael Latzer im Interview

Die Gesellschaft befindet sich im Umgang mit digitalen Medien noch immer in einer Lernphase, sagt UZH-Kommunikationswissenschaftler Michael Latzer. Ein Video veranschaulicht anhand ausgesuchter Forschungsergebnisse, wie rasant der Medienwandel in der Schweiz voranschreitet.

Herr Latzer, eine Ihrer Studien zeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer heute doppelt soviel Zeit im Internet verbringen wie noch 2013, nämlich fast 4 Stunden täglich. Was macht das Internet so unwiderstehlich?

Michael Latzer: Das sind nicht nur die attraktiven Informations- und Kommunikationsangebote. Anfangs stand das “nutzen können” des Internets im Vordergrund, mit der allgegenwärtigen Digitalisierungs-Euphorie kommt vermehrt das “nutzen müssen” hinzu, sei es aus beruflichem oder sozialem Druck, um keine Nachteile zu erleiden. Zudem verstehen es die Dienstanbieter wie YouTube, Netflix oder Facebook geschickt, mittels Empfehlungen, die automatisch hintereinander gestartet werden, zu längerer Nutzung zu verführen.

Wo sehen Sie als Medienforscher den grundlegenden Unterschied zwischen Medien wie Zeitung, Radio und Fernsehen und dem Internet?

Der grundlegende Unterschied zu den traditionellen Medien ist, dass im konvergenten Internet die Inhalte von der Trägertechnologie entkoppelt sind. Das schafft die entscheidende Flexibilität bei Angebot und Konsum – und zwar auf einer einheitlichen digitalen Basis. Das bringt ökonomische Vorteile und macht das Internet zur äusserst attraktiven Innovationsmaschine, da Dienste-Innovationen nicht nur zentral, sondern auch an den Enden des Netzes von den Nutzerinnen und Nutzern gesetzt werden können.

Kann man mit dem herkömmlichen Begriff von “Medium” überhaupt erfassen, was das Internet ist und was es leistet?

Das Internet ist aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive nicht ein Medium, sondern kann als “Netz von Netzen” beziehungsweise als eine mediale Vielzweckinfrastruktur verstanden werden. Es definiert sich durch sein technisches Netzwerkprotokoll, das Internet Protocol – kurz IP, das sich als einheitlicher Standard durchgesetzt hat und nun vormals getrennte Netze verbindet.

Das Smartphone ist ein Allzweckinstrument, ein digitales “Sackmesser”, wie Sie sagen. Wir kaufen damit ein, organisieren damit unser Sozialleben, überwachen damit unseren Gesundheitszustand oder nutzen es zur Unterhaltung. Ist es noch sinnvoll, zwischen analogem und digitalem Leben zu unterscheiden?

Das hängt von den Fragen ab, die man beantworten möchte. Die Unterscheidung und Grenzziehung ist vielfach problematisch, kann aber nach wie vor analytisch sinnvoll sein. Uns interessieren ja im Speziellen die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Transformationsprozesses vom Analogen zum Digitalen.

Sechs von zehn Schweizerinnen und Schweizern nutzen soziale Medien. Weiss man auch etwas darüber, ob sich die Art und Weise, wie Menschen die sozialen Medien nutzen, in den letzten Jahren verändert hat?

Das kann auf Basis der vorliegenden Studien nur detailliert für einzelne Dienste beantwortet werden. Ein einheitliches Bild für die sozialen Medien gibt es nicht.

Die Geschichte zeigt, dass Medienrevolutionen stets mit tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft einhergingen. Ist absehbar, wie sich durch soziale Medien die Gesellschaft verändert?

Die gesellschaftlichen Effekte von sozialen Medien lassen sich kaum isolieren. Viele Aussagen zu deren Bedeutung etwa für die US-Wahlen oder die Brexit-Abstimmung sind meines Erachtens äussert zweifelhaft bis unseriös. Mit zunehmender Komplexität des Mediensystems – und die ist zweifellos gegeben – nehmen nicht nur die gezielten Steuerungsmöglichkeiten ab, sondern auch unsere Prognosefähigkeit. Darauf sollte man sich auch in der Politik einstellen.

Lässt sich etwas darüber sagen, wie die sozialen Medien die Meinungsbildung in der demokratischen Öffentlichkeit verändern?

Sie untergraben unter anderem die Gatekeeping-Dominanz traditioneller Medien. Beispielsweise können nutzerinnen- bzw. nutzergenerierte Inhalte an den massenmedialen Schleusen zur Öffentlichkeit vorbei geleitet werden. Von besonderer Bedeutung ist sekundäres Gatekeeping, bei dem massenmediale Inhalte nochmals gefiltert und gebündelt werden. Ihre volle Wirkungsmacht entfalten die sozialen Medien dabei in Kombination mit der Anwendung automatisierter, algorithmischer Gatekeeping-Funktionen. Doch bei all den damit verbundenen Befürchtungen von Filterblasen und Echoräumen ist Vorsicht angebracht. Nur selten wird das gesamthaft genutzte Medienrepertoire einzelner Personen und deren individuelle Bedeutungszuweisung zu den verschiedenen Quellen beachtet. Damit relativieren sich viele derzeit vorgebrachte Befürchtungen.

Medien finanzieren sich bis heute mehrheitlich über Werbung. Heute ziehen die kalifornischen Internet-Konzerne einen Grossteil der Werbegelder an. Haben hiesige Medienunternehmen längerfristig noch eine Chance?

Hiesiger Journalismus hat eine Chance, aber Journalismus ist langfristig nicht zwingend an die bestehenden Medienunternehmen gekoppelt. Auch hier kann und wird mit der Digitalisierung eine Entkoppelung stattfinden.

Mit 2 Milliarden Nutzern wäre Facebook das grösste Land der Welt. Unsere heutige Welt ist durch Nationalstaaten geprägt. Wachsen die Nationen dank der sozialen Medien zu einer Weltgemeinschaft zusammen?

Das trifft stärker für den Handel – inklusive Medienprodukte – zu, aber kaum auf Politik und Soziales.

Oder vertieft sich die Fragmentierung der Gesellschaft, weil die Menschen sich in ihren jeweiligen Filterblasen einrichten?

Derartige Wirkungen von Filterblasen wurden empirisch bislang nicht nachgewiesen. Echokammern sind auch nicht bloss Gefängnisse, sondern vielmehr Wohlfühlzonen. Generell wird ein Grossteil der negativen, rein normativ abgeleiteten Annahmen durch empirische Studien relativiert. Das heisst aber nicht, dass generell und unabhängig von sogenannten Filterblasen weitere Fragmentierung beziehungsweise Individualisierung der Gesellschaft, etwa mittels algorithmischer Selektion, stattfindet.

Eine Ihrer Studien besagt, dass das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit digitaler Medieninhalte in der Schweiz abnimmt. Gleichzeitig werden Online-Medien als Informationsquellen immer stärker genutzt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Wir zeigen mit unseren Untersuchungen, dass Nutzerinnen und Nutzer zwar viele Quellen verwenden, aber sehr wohl zwischen der Glaubwürdigkeit unterschiedlicher Online-Quellen differenzieren. Zudem wird deutlich, dass die Nutzungsdauer – etwa von Social Media – kein Indiz für die zugewiesene Glaubwürdigkeit der Inhalte ist. Gleichzeitig überprüfen Nutzerinnen und Nutzer zunehmend Informationen, die sie über das Internet erhalten. Das zeigt, dass wir uns in einer Lernphase befinden und dabei zunehmend neue Kompetenzen im Umgang mit Online-Inhalten erwerben.

Viele Menschen glauben, zu viel Zeit im Internet zu verbringen. Weist das auf Suchtverhalten hin?

Wir zeigen für die Schweiz, dass das Phänomen der langen Internetnutzung weit über das als Internetsucht besprochene Minderheitenproblem hinausgeht. Von den jungen Menschen in der Schweiz empfinden sechzig Prozent, dass sie zu viel Zeit im Internet verbringen. Zudem können wir zeigen, dass dies mit einer erheblichen Reduktion des allgemeinen Wohlbefindens der betroffenen Personen verbunden ist.

Sie haben soeben ein Video lanciert, das die wichtigsten Befunde mehrerer Forschungsprojekte zusammenfasst. Wen möchten Sie damit erreichen? Und warum?

Die Vermittlung von Forschungsergebnissen gehört zu unseren Aufgaben als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Mit Kurzvideos zielen wir auf jene Personen, die unsere wissenschaftlichen Publikationen und auch deren Besprechungen in den traditionellen Medien nicht erreichen. Sie sind als Ergänzung zu unseren sonstigen Vermittlungsbemühungen zu verstehen, nicht als deren Ersatz. Unser neuestes Video schliesst an unsere Clips von 2010 und 2014 an, die alleine auf YouTube zusammen knapp 100‘000 Views hatten. Mit den Videos wollen wir vor allem Denk- und Diskussionsprozesse über die Folgen der Digitalisierung anstossen.

Quelle: netzwoche.ch

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