Krise in der Ukraine “Der Weg aus der Konfrontation führt über eine Finnlandisierung”

21.03.2022.

von: Prof. Dr. Michael Stürmer

Die Lage in der Ukraine sei ernst, auch Putin habe wohl nicht die volle Kontrolle über die Aktivisten im Osten des Landes, sagte der Historiker Michael Stürmer im Deutschlandfunk. Eine Lösung der Krise könne es nur geben, wenn die Ukraine neutral zwischen Ost und West gestellt werde.

“Die Spaltung des Landes ist in vollem Gange, und wir können froh sein, wenn es keinen Bürgerkrieg gibt.” Angesichts der aktuellen Entwicklung müsse bezweifelt werden, ob Russlands Präsident Wladimir Putin tatsächlich die Kontrolle über die prorussischen Aktivisten in der Ostukraine habe.

Die Ukraine gehöre die Ukraine zum imperialen Großraum. Deren geopolitische Bedeutung existiere allerdings nur in den Köpfen der Russen, sagte Michael Stürmer im DLF. Denn das Land habe außer der Waffenproduktion wenig für Moskau zu bieten. Auch “die Krim ist gar nicht so wichtig ohne den Ausgang ins Mittelmeer. Und das sind die Dardanellen.” Das werde aber wohl weiter unerfüllt bleiben, so Stürmer.

Noch viel Überzeugungsarbeit notwendig

Der Historiker ließ das Argument der “Umklammerung” für Putins Politik nicht gelten. Als großes Land, das sich über die vergangenen Jahrhunderte so ausgedehnt habe, gebe es nun mal viele Nachbarn, die einem auch nicht alle wohlwollten. Darüber dürfe sich Moskau nicht wundern, sagte Stürmer.

Der Konflikt lasse sich nur mit einer politischen Neutralisierung der Ukraine lösen – eine Art “Finnlandisierung”. Das könne allerdings nur aus einem Konsens heraus geschehen. Der Weg dahin sei aber spannungsreich und gefährlich. Die Situation sei durchaus vergleichbar mit der Kuba- und Berlin-Krise vor 50 Jahren. Um die Spannungen abzubauen, müsse noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Das laufe “nicht ohne Druck” ab. “Und der Druck baut sich gegenwärtig beängstigend auf.”

Laut Stürmer lag der Hauptfehler des Westens in den vergangenen Jahren darin, Russland zu unterschätzen. Es habe zu viel Lautsprecherdiplomatie gegeben, zugleich aber seien zu wenige Gespräche über das Telefon und andere halboffizielle Wege geführt worden.

Das vollständige Interview mit Michael Stürmer:

Jürgen Liminski: In Sewastopol auf der Krim hat der russische Präsident gestern demonstrativ an der Flottenparade teilgenommen und den Sieg über Nazideutschland gefeiert. Aber war das nicht auch und zuerst eine Siegesfeier über den Westen? War es nicht auch eine Demonstration für den alten Drang Moskaus an die warmen Meere? Und wie geht es weiter mit der Ukraine nach dem Referendum am Sonntag? Was plant Putin? Gibt es ein Big Game um die Ukraine oder gar in Europa? Zu diesen Fragen begrüße ich den Historiker und Publizisten Professor Michael Stürmer. Guten Morgen, Herr Stürmer!

Michael Stürmer: Guten Morgen!

Liminski: Herr Stürmer, gestern hat sich die Krim von Kiew losgesagt, morgen stimmt die Ostukraine über ihre Unabhängigkeit ab. Ist die Spaltung des Landes noch aufzuhalten?

Stürmer: Die Spaltung des Landes ist in vollem Gange, und wir können froh sein, wenn es keinen Bürgerkrieg gibt. Die Lage ist sehr ernst, und sie ist im Grunde unter niemandes wirklicher Kontrolle. Ob Putin die volle Kontrolle hat, das muss man nach den Ereignissen der letzten Tage und seinen Zusagen, die dann gar nicht eingehalten wurden, doch bezweifeln. Und das ist ein weiterer beunruhigender Faktor.

Liminski: Welche Rolle spielt denn die Ukraine im geopolitischen Machtpoker Putins?

Stürmer: Ja, mit – das ist ein altes Wort von Zbig Brzezinski, dem Sicherheitsberater von Präsident Carter – mit Ukraine ist Russland ein Imperium, ohne Ukraine ist Russland ein immer noch riesiges, aber doch Fragment. Die Ukraine gehört sozusagen in den imperialen Großraum hinein für Putin – so denkt man sich das. Die Ukraine selber hat in ihrem Ostteil eine sehr interessante Industrie, nämlich vor allem Waffen. Sonst hat sie wenig zu bieten. Sie hat Getreide, aber sie hat keine Rohstoffe außer Kohle. Sie ist Durchleitungsland für Gas, das ist für sie eine wichtige Trumpfkarte, aber diese Trumpfkarte ist vermindert, etwa durch die Ostseepipeline und durch die wahrscheinlich kommende Südroute.

Heldenmythos des Krimkriegs

Liminski: Georgien, Moldawien, die Krim – der Drang Russlands nach Westen oder aus der gefühlten Umklammerung ist offenkundig. Wo sind denn die roten Linien für Putin?

Stürmer: Erst mal zu der gefühlten Umklammerung: Wissen Sie, wenn man das größte Land der Welt ist mit elf Zeitzonen, dann hat man ziemlich viele Nachbarn. Die akquiriert man ja mit der Masse des Landes. Also insofern ist mein Mitleid mit der Umzingelung oder mein Verständnis dafür begrenzt. Denn wenn man sich so breitmacht, wie Russland sich im Lauf der letzten vier Jahrhunderte breitgemacht hat, dann darf man sich nicht wundern, dass man viele Nachbarn hat, die einem nicht alle wohlwollen. Im Übrigen, wenn wir schon davon sprechen, ist natürlich China für Russland eine ganz andere Herausforderung – ich vermeide das Wort Gefährdung –, eine Herausforderung als die NATO und die EU, die ja im Grunde ziemlich friedliche und Status-quo-bezogene Gruppierungen sind. Also die geopolitische Bedeutung der Ukraine ist für die Russen in den Köpfen, in der Sehnsucht, in der Nostalgie des Imperiums angelegt. Sewastopol ist – Katharina die Große hat ihren Ruhmestitel, die Große, erworben durch die Eroberung der Krim in den vielen Kriegen des 18. Jahrhunderts, Russland gegen die Türken. Aber die Krim ist gar nicht so wichtig ohne den Ausgang ins Mittelmeer. Und das sind die Dardanellen. Und sozusagen schon seit Peter dem Großen hat man immer hinter der Krim die Dardanellen gesehen, und das ist bis in den Zweiten Weltkrieg, bis in die NATO-Periode hinein ja unerfüllt geblieben und wird auch weiterhin nach menschlichem Ermessen unerfüllt bleiben. Das heißt, die Krim ist nur aus Sicht des Schwarzen Meeres der geopolitische Hauptgewinn. Aber da hängt der ganze Heldenmythos des Krimkriegs dran – das ging ja vor allem um Sewastopol, das ist im Zweiten Weltkrieg noch mal sehr umkämpft gewesen, und insofern ist das auch eine Herzenssache.

Liminski: Noch mal – wo sind denn die roten Linien für diesen Drang an die warmen Meere und überhaupt nach außen?

Stürmer: Die roten Linien, die Putin sieht – ja, wenn wir von Linien sprechen, dann redet man ja von Grenzlinien. Das ist natürlich NATO-Gebiet. Denn dann greift Artikel fünf des NATO-Vertrages, und dem sich zu entziehen ist nicht ganz einfach. Da ist dann ein ungeheurer moralischer Druck, und es ist auch eine große Unberechenbarkeit für Putin. Aber wenn man mal von roten Linien absieht – nehmen wie die Sanktionen, die sind sehr, sehr ernst – und die Sanktionen, und das ist Putin wohl erst im Lauf der vergangenen zwei Monate klar geworden, die Sanktionen können noch sehr viel härter werden, aber sie sind jetzt schon, bevor sie eigentlich wirklich greifen, sind sie schon eine so ernste Warnung für die wirtschaftlichen Schäden Russlands, dass Putin sich klar machen muss: Du zahlst für die Krim und mögliche andere Neuerwerbungen an Land zahlst du mit der Chance der Modernisierung. Denn ohne westliche Technologie, speziell deutschen Maschinenbau und einige andere Sachen auf dieser Qualitätsstufe gibt es keine Modernisierung Russlands. Und Russland kann nicht auf immer und ewig nur von Öl und Gas leben.

Liminski: Sie haben neulich geschrieben, eine Art Finnlandisierung wäre für die Ukraine eine allseits akzeptable Lösung. Ist es dafür nicht schon zu spät?

Stürmer: Im Moment ist es jedenfalls der falsche Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Und es muss aus der Ukraine selbst kommen. Und es muss in einem Konsensus kommen. Und die Ukraine ist natürlich nicht Finnland, und die Ukrainer sind auch keine Finnen. Finnland ist ein wohlgeordnetes Staatswesen – das kann man von der Ukraine beim besten Willen nicht sagen. Aber es geht ja darum, die Ukraine gewissermaßen neutral zu stellen zwischen Ost und West. Und deshalb ja der Begriff Finnlandisierung, den die Finnen so gar nicht sehr schätzen, weil er sozusagen ihnen einen minderen Status, völkerrechtlich, staatsrechtlich zumisst. Aber wahrscheinlich ist das – das hat auch wiederum der schon genannte Zbig Brzezinski ins Spiel gebracht, Henry Kissinger hat Ähnliches angedeutet, also die Großdenker der westlichen Strategie – man wird sich darauf einigen müssen oder man einigt sich überhaupt nicht und geht in eine sehr lange, nicht nur monatelange, sondern jahrelange schwere Spannungsphase hinein. Das ist natürlich in niemandes Interesse. Es ist auch nicht im weltwirtschaftlichen Interesse. Es ist auch nicht im russischen Interesse und auch nicht im ukrainischen Interesse. Das heißt, die innere Föderalisierung der Ukraine und die äußere Neutralisierung der Ukraine ist wahrscheinlich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand – unter welchem Namen auch immer – der Weg aus der akuten Konfrontation. Wie man aber von hier nach da kommt, das ist natürlich äußerst spannungsreich und gefährlich.

Vergleichbar mit der Berlin- oder Kubakrise

Liminski: Geschichte wiederholt sich nicht, das haben wir gelernt, aber ist diese Krise denn mit anderen, größeren Krisen vergleichbar?

Stürmer: In der Größenordnung würde ich ohne Weiteres sagen, mit der Kubakrise und der Berlin-Krise vor 50 Jahren. Das ist die Größenordnung. Aber sie verläuft natürlich wieder ganz anders. Aber die Einsätze sind sehr groß. Es müssen erst wieder neue Regeln gefunden werden. Ich darf daran erinnern: Nach Berlin und Kuba ist ja erst die ganze Rüstungskontrolle, diese Kathedrale von Verträgen und Symmetrien und Kontrollen, wechselseitigen Kontrollen aufgebaut worden, Stein für Stein und Stück für Stück und Abkommen für Abkommen. Das sind ja Riesenaktenstücke, die da ausgetauscht worden sind und verifiziert worden sind, die ja den Kalten Krieg reguliert haben, in beiderseitigem Einverständnis.

Liminski: Lawrow verhandelt mit Kerry, Obama telefoniert mit Putin, die Europäer bemühen sich, sagen wir mal, redlich. Werden wir Zeugen eines Rückfalls in das 19. Jahrhundert, als Großmächte über das Schicksal von ganzen Regionen und kleinen Staaten entschieden haben?

Stürmer: Das 19. Jahrhundert war besser als sein Ruf. Es hat zwischen 1815 und 1914 außer dem Deutsch-Französischen Krieg ein paar kleine Kriege gegeben, aber die waren sehr, sehr gering gemessen an den Gräueln und Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das heißt, natürlich waren die Großmächte diejenigen, die sagten, wo es lang geht und wo der Hammer hängt, aber das hatte nicht nur Nachteile. Die Nachteile darf man natürlich nicht vergessen. Es hatte auch manche Vorteile. Aber davon sind wir weit entfernt. Die Völker haben ihr Sagen und die Völker lassen sich nicht alles gefallen. Sie warten auch nicht ab, bis Gipfeldiplomatie das absegnet. Wir haben ja alle ein geradezu kindliches Vertrauen auf Gipfeldiplomatie. Wenn die doch nur miteinander telefonieren, oder gar beim Abendbrottisch zusammenkommen, dann ist die Welt zu ordnen. So ist es natürlich nicht, sondern es braucht sehr viel Fußarbeit, sehr viel Vorarbeit, Fußarbeit, Backchannels, also die berühmte Hintertürendiplomatie. Das braucht es alles. Und dann kann man sich wahrscheinlich verständigen – aber da muss sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Und das geht nicht ohne Druck ab. Und der Druck baut sich gegenwärtig beängstigend auf. Auf Mitteleuropa, auf Osteuropa – diese Manöverkulissen gerade an diesen Tagen – lassen wir man die Parade vom Freitag zur Siegesfeier auf der Krim beiseite – aber die Großmanöver, die neuen Raketen, die getestet werden. Das hätte man ja auch entweder unterlassen können – so dringend ist das nicht – oder man hätte es verschieben können. Aber nein, das muss noch dazugesetzt werden. Das ist natürlich eine psychologische – das ist psychologische Kriegführung, wie ja überhaupt in dieser ganzen Krise nicht nur die materiellen Verhältnisse sich ändern, sondern darüber liegt ja eine Schicht von Information, Desinformation, Propaganda, Informationskriegführung – und ich meine nicht nur Cyber, Cyber ist noch mal eine weitere Dimension, sondern regelrecht Propaganda und Informationskriegführung.

Liminski: Wo liegen denn die Fehler des Westens, auch heute noch?

Stürmer: Also inzwischen hat sich herumgesprochen, dass nicht alles, was der Westen seit 1990 getan hat, sozusagen von purer Staatskunst und Weisheit bestimmt war, sondern auch von einer Unterschätzung der Russen, von einer einfach militärischen, strategischen Unterschätzung, aber auch von einer Unterschätzung der psychologischen Kräfte, die am Werk sind, wenn ein Imperium zusammenkracht. Wo liegen die Fehler des Westens heute? Zu viel Lautsprecherdiplomatie, zu wenig intensive Arbeit sozusagen am Telefon, aber auch auf Backchannels, also auf – es gibt leider kein Wort dafür im Deutschen – sozusagen inoffizielle Wege, halboffizielle Wege, die muss man viel besser nutzen.

Liminski: Sagt der Historiker und Publizist Michael Stürmer hier im Deutschlandfunk. Besten Dank für das Gespräch, Herr Stürmer!

Stürmer: Ja, danke Ihnen!

Quelle: deutschlandfunk.de

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