„Die Digitalisierung beginnt im Kopf und erfordert Veränderungsbereitschaft!“

31.01.2018.

Roger Eric Gisi | Unternehmer und Gründer von Schweizer Experten- und Marktplattformen zu Cloud-Computing, Security, CRM/ERP, Energie und Digitalisierung

Quelle: ictk.ch

In anbetracht des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstandes müsste die Schweiz eigentlich eine internationale Vorreiterrolle in der Digitalisierung bekleiden. Sie tut es aber nicht. Im Gespräch mit ICTkommunikation verweist Roger Eric Gisi, Unternehmer und Gründer von Schweizer Experten- und Marktplattformen zu Cloud-Computing, Security, CRM/ERP, Energie und Digitalisierung, auf die Defizite und zählt Möglichkeiten auf, die die Schweiz punkto Digitalisierung auf Kurs bringen könnten.

Interview: Karlheinz Pichler

ICTkommunikation: Wo stehen die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft aus Ihrer Sicht aktuell im Hinblick auf die Digitalisierung?

Roger Gisi: Dazu möchte ich zunächst einmal darauf hinweisen, dass man sich in der Schweiz zwar des hohen Exportanteils, den die ICT-Industrie beiträgt, rühmt. Jedoch führt man für diese Branche, die wichtiger als die Finanzindustrie ist, nicht einmal einen Branchenindex beim Bundesamt für Statistik. Und beim Erstellen von Studien lässt man so viel Zeit vergehen, dass sie bereits bei ihrem Erscheinen schon wieder veraltet sind. Gemäss OECD-Studie rutscht die Schweiz in Digitalsierungs-affinen Bereichen jährlich weiter nach hinten ab. Da helfen auch die aktuellen Hype- und Hyperaktivitäten gewisse Kreise, bei denen teils auch der Bund mitmacht, nicht wirklich. Da nützen auch diese Studien der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftskraft der Softwareindustrie in der Schweiz nicht wirklich. Es fehlt an Leadern für den Wandel, der die heutige Technolgie ermöglicht. Und da spreche ich nur von Informatik und noch nicht einmal von der Digitalisierung. Es mangelt defacto innerhalb der staatlichen Strukturen und in der Wirtschaft durchgängig an Weitsicht. In praktisch allen Sektoren mache ich dies aus. Hätten wir nicht seit ungefähr drei Jahren den „Buzz Digitalisierung“, würde sich niemand um die Potentiale der Informationstechnologie zu Gunsten Wirtschaft, Staat und Privatleben kümmern. So in etwa empfinde ich die Fürsorge für die Zukunftsfähigkeit der Schweiz.

ICTkommunikation: Da zeichnen sie aber ein düsteres Bild. Was läuft denn schief und besteht Hoffnung?

Roger Gisi: Zugegeben, das Erkennen von Transformationen, von echten „Changes“, ist gar nicht so einfach. Blicken wir auf unser Parlament: Ist es denn tatsächlich so aufgestellt, als würde es die Zukunftsfähigkeit der Schweiz gestalten, diese Umgestaltung wirklich antizipieren? Im Gegensatz zu vielem ist die IT mit ihrem gesamten Ökosystem nun wirklich systemrelevant für unsere Volkswirtschaft, für unser Land. Haben Sie so einen Satz schon jemals von einem Bundesrat gehört? Düster ist, dass wir, aus unserer Geschichte heraus, mit all dem Wachstum und Wohlstand, bereits heute die führende Digital-Nation per se sein müssten. Schön, wenn wir zu nationalen Anlässen ausländische CEO`s von Regierungen sprechen lassen (müssen), wenn unsere Bundesräte in anderen Ländern die Elektronische ID und Gesundheitskarten bewundern. Da läuft doch einiges schief – aber die Schweiz hat in ihrer Zeitgeschichte schon sehr viel Anpassungsfähigkeit bewiesen, teils auch ohne grossen Leidensdruck. Insofern; doch, es besteht schon Hoffnung!

ICTkommunikation: Immerhin scheint der Bund in Sachen Digitalisierung doch einen Gang höher geschaltet zu haben. Oder täuscht dieser Eindruck?

Roger Gisi: Ja das täuscht. Aktuell haben ein paar unkoordinierte, leider nicht systematisch fundierte Projekte – wenn man diese überhaupt als solche benennen darf – vor allem Hype-Charakter. Ich möchte daran erinnern, dass beispielsweise bereits im Jahre 2006 verschiedenste Grundlagendokumente zur eID vorlagen und wir heute, in 2018 immer noch keine Lösung für die gesamte Volkswirtschaft fertig haben. Und, vielleicht als Folge davon, das Parlament teils in komplett falsche Richtungen zielt, diskutiert und verabschiedet. Und dies ist nicht Ansichtssache. Es geht um grundsätzliche Hoheitsaufgaben eines Staates, einer Staatsinfrastruktur für eine neue Zeit.

Vielfach fehlt das Engagement, die Einsicht und das Antizipieren neuer Themen für unsere herausfordernde neue Zeit. Da der Bund selber nicht aktuell ist, halten sich die Verantwortlichen in jeglichen Rollen leider zu stark zurück. Damals (2005) war die kontroverse Diskussion über die Konzeption und Ausgestaltung von E-ID noch in vollem Gange. Heute sind die konzeptionellen Grundlagen und Irrtümer sowie die (Miss-) und Erfolgsfaktoren weitgehend bekannt. Dies heisst jedoch nicht, dass die Einführung und möglichst flächendeckende Nutzung von E-ID bei Online-Interaktionen und Transaktionen inzwischen Allgemeingut wären – im Gegenteil: das Huhn/Ei-Problem (wer bezahlt, wer profitiert) lässt sich privatwirtschaftlich ebenso wenig lösen, wie flächendeckende Anwendungen im Bereich E-Health (Asymmetrie zwischen Kosten und Nutzen, proprietäre Lösungen).

ICTkommunikation: Dessen ungeachtet: Wie sehen Sie das Zusammenspiel zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Bezug auf die Digitalisierung generell?

Roger Gisi: Natürlich hat die Digitalisierung grosse Auswirkungen auf Gesellschaft und Privatleben. Hinzu kommt – im Unterschied zu anderen wirtschaftlichen Entwicklungen – dass es sich um eine weltweite Veränderung handelt. Die Auswirkungen und die damit verbundenen Handlungsfelder auf gesellschaftlicher Ebene zu betrachten macht durchaus Sinn. Nicht nur, weil diese sich letztlich auch in der unternehmerischen Umwelt widerspiegeln. Die Frage nach dem Digitalen im Unternehmen kann nicht losgelöst von der Frage nach dem Digitalen in der Gesellschaft und bezogen auf das Selbst – die individuelle Ebene – gestellt und beantwortet werden.

ICTkommunikation: Wie könnte eine Genese hin zu einer „Digitalen Schweiz“ aus ihrer Sicht konkret aussehen?

Roger Gisi: Die ökonomische Wirkung der Digitalen Transformation in allen Bereichen ist kumulativ und nicht leicht fassbar. Der Nutzen der ICT hängt direkt von den Voraussetzungen ab: Kompetenz, Bereitschaft und Mittel, aber auch von Rahmenbedingungen und Hemmnissen. Diese sollten je nach Politik, System und Umfeld aktiver und günstiger gestaltet werden. Zwecks Ausschöpfung der Potenziale ist die ICT mit hoher Priorität in allen Bereichen konsequent zu nutzen: Behörden, Zivilgesellschaft, Bildung, Forschung, Wissenschaft, Gesundheit, Soziales, Energie, Versorgung, Transport, Verkehr, Logistik, Armee, Polizei, Rettung, Privatwirtschaft, Interessenvertretung, internationale und supranationale Organisationen usw. Andere Schlüsseltechnologien hängen direkt mit den ICT und deren Entwicklungen zusammen: Bio, Pharma, Life Sciences, Chemie, Elektronik, Instrumente, Energie, Transport, Verkehr, Logistik, Material, Maschinen, Teile, Medizintechnik, Photonik, Robotik, Sensorik usw. – und damit auch die Bedeutung für den Standort Schweiz.

Der Lösungsansatz lieg in der Veränderungsbereitschaft. Die Digitalisierung beginnt im Kopf, dann beim Management. Dass sie sowohl Ängste wie auch Chancen auslöst, ist bekannt und mittlerweile in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik akzeptiert. Aber das Digitale ist ja seit den 1960er Jahren unterwegs, einfach die Geschwindigkeit und die Globalisierung haben rasant zugenommen. Es wird schon lange an der Integration von digitalen Lösungen gearbeitet – je nach Bedarf, sprich Geschäftsnotwendigkeit.

Es geht darum, wie wir die heutigen technologischen Möglichkeiten, über die Vernetzung, in Nutzen umwandeln. Also wie die ICT unsere Geschäftsstrategie, unser Businessmodell und unsere Markt- und Kundenentwicklung unterstützen, resp. verändern kann. Dabei muss der Kundennutzen und nicht die Technologie im Vordergrund stehen. Das erhöht wiederum die Komplexität und fordert das Management enorm. Dazu darf ich Prof. Malik zitieren der seit vielen Jahren das Thema fundiert darlegt: „Die Digitalisierung erfordert ihre eigenen Managementsysteme und -prozesse, die ebenso wie sie selbst mit dynamischer Komplexität umgehen können, mit Selbstorganisation und Selbstregulierung, mit den Prinzipien der Evolution, mit Ungewissheit, Dynamik, Change und Transformation“. Und weiter: „Funktionell sind diese Managementsysteme vergleichbar mit Operating Systems von Computern oder Nervensystemen von Organismen. So wie das richtige Funktionieren eines Computers erst durch das richtige Betriebssystem möglich ist, das Funktionieren einer Zelle durch die DNA und das Funktionieren eines Organismus durch sein Nervensystem, so wird das Funktionieren von Organisationen erst durch das richtige Managementsystem möglich. Richtiges, komplexitätstaugliches, systemkybernetisches Management verstehe ich daher auch als das soziale und evolutionsfähige ‘Operating System’ für Organisationen und Projekte jeder Art und Grösse“.

Wir brauchen in allen Bereichen, auf allen Stufen mehr Menschen und Kompetenzen, die erst einmal diese Herausforderungen grundsätzlicher Art verstehen. Vernetzt, offen, kollaborativ und interdisziplinäres Denken ist gefordert. Also, mit neuem Management die Prozesse aus der Perspektive Kundennutzen angehen. Dazu gehören auch wir – die Bürger unseres Staates. Wir sind die zahlenden Kunden unseres Staates, des Gemeindehauses im Wohnort; also konkret für die Mehrwertsteuer, für die Steuererklärung, die AHV-Abrechnung, für die gesamte elektronische Administration der Gemeinde und meinetwegen für die Motorfahrzeugausweise und die die Stromzähler-Ablesung. Bringen Sie denn auch noch handschriftlich ausgefüllte Briefpostkarten mit Ihrem Zählerstand auf die Post? Als kompetente Bürger im 21. Jahrhundert wollen wir nicht zwischen den Instanzen unseres föderalen Systems unterscheiden, sondern ein breites, durchgehend realisiertes Digital Government nutzen und davon profitieren können.

ICTkommunikation: Was also felht konkret?

Roger Gisi: Es braucht eine Gesamtübersicht, einen strukturierten Weit- und Durchblick, eine Art Roadmap mit einer klaren Gesamtstrategie – mit den Schwerpunkthemen Staat, Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft. Für eine fundierte Transformation ist nach der Wirkung (direkte, indirekte und induzierte Wirkung) zu priorisieren und vorzugehen. Darin haben wiederum die Themen einen hohen Stellenwert, die zum einen langfristig ausgelegt sind und trotzdem schnell Wirkung auf allen Stufen unserer Volkswirchaft zeigen. Ich denke da an das „Neue Arbeiten“, wo alle ihre Arbeitsweisen auf die digitalen Innovationsnetzwerke umstellen müssen, an die Bildung und Ausbildung, wo die Integration des Digitalen in die Berufssysteme dringender denn je angegangen werden muss. Dann die Gesundheits-Versorgung und die Mobilität. Dass es dazu die Infrastrukturen von Telefonie, Energie, Internet und Breitband braucht, muss ebenfalls noch mehr sensibilisiert und umgesetzt werden.

Vieles ist in der Schweiz an verschiedensten Stellen unterschiedlich weit gediehen. Wir müssen daher an Synchronisation und Geschwindigkeit zulegen, denn niemand wartet auf uns. Für die Zukunftsfähigkeit sind wir in Sachen Innovation, gemäss dem Global-Innovation-Index, geradezu prädestiniert und könnten eine führende Rolle im Digitalen einnehmen, nur die Realisierung sollten wir ernster und zügiger an die Hand nehmen. Die Schweiz, auch wenn es uns (noch) sehr gut geht, befindet sich im Spannungsfeld der globalen Herausforderungen und im internationalen Verdrängungskamof um die Wettbewerbsfähigkeit. Die Digitalsierung ist Grundlage für den künftigen Wohlstand in der Schweiz.

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